Ist Autismus eine geistige Behinderung?

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Autismus ist keine Krankheit, sondern eine angeborene Neurodiversität. Einfach ausgedrückt verarbeiten Autist*innen Sinneseindrücke, Umwelteinflüsse und Kommunikation anders als Menschen im neurotypischen Spektrum (siehe auch Was ist Autismus?).

Bei jedem autistischen Menschen äußert sich die Neurodiversität anders. So gibt es Autist*innen, die unter großer Anstrengung ihre Andersartigkeit so gut verschleiern, dass die Umwelt es nicht bemerkt (oder auch erst im Erwachsenenalter eine Diagnose erfolgt; siehe auch Was ist Autismus?).

Andere Autist*innen haben eine überdurchschnittliche Intelligenz. Wiederum andere weisen eine ganz normale Intelligenz auf. Manche haben Verhaltensauffälligkeiten, andere nicht. Es gibt auch Autist*innen im kognitiven Normspektrum, die einen Schwerbehindertenstatus aufweisen (mehr dazu im Abschnitt „Behinderung nicht gleich Behinderung“).

Einigen Autist*innen jedoch kann man eine geistige Behinderung attestieren – selber identifizieren sie bevorzugt als Autist*innen mit Lernschwäche. Sie benötigen Pflege und andauernde Begleitung im Alltag. Es ist also nicht falsch, dass manche Autist*innen eine geistige Behinderung haben. Bei der Wahrnehmung, dass Autismus mit geistiger Behinderung gleichzusetzen ist, handelt es sich aber um ein Stereotyp.

Interessanterweise hat der Film „Rain Man“ sowohl des Klischee des Autisten als überdurchschnittlich intelligenten Geeks als auch das Klischee der geistigen Behinderung forciert.

Behinderung ≠ Behinderung

Es gilt dabei aber auch, zwischen der Diagnose einer geistigen Behinderung und Behinderungen im Alltag zu unterscheiden. Während ein Großteil der Autist*innen nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist, leben sie dennoch in einer Welt, die nicht barrierefrei ist.

Man spricht deshalb auch vom Wrong Planet Syndrom. Die Barrieren reichen von Inkompatibilitäten in der Kommunikation über strukturelle Hindernisse bis hin zu invasivem Verhalten.

Beispiele:

  • Kommunikation: Während Autist*innen in Widerspruch zum Klischee Sarkasmus und Ironie beherrschen können, fällt das Erkennen und die Deutung von Subtext und Mimik bei nicht-nahestehenden Personen schwer.
  • Strukturelle Hindernisse: Für viele Autist*innen sind Orte mit Personenüberschuss eine Herausforderung. So kann eine Fahrt in der U-Bahn zur Rush Hour in einem Overload enden – oder die Autist*in tritt die Fahrt gar nicht erst an.
  • Invasives Verhalten: Was für die Mehrheit der neurotypischen Personen eine Selbstverständlichkeit ist (Hände schütteln, Nähe), kann für einen autistischen Menschen übergriffig sein. Gesellschaftliche Konventionen wie Etikette und Protokoll stellen so häufig eine Herausforderung dar.

Während nur eine Gruppe von Autist*innen die Diagnose der geistigen Behinderung hat, weiß die Mehrheit der Menschen mit Autismus von solchen oder ähnlichen Barrieren zu berichten. Deshalb spricht man auch von einer „seelischen Behinderung“. Je nach Schweregrad kann das für einzelne Autist*innen zu Schwierigkeiten auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt führen. Und so haben auch einige Autist*innen einen Schwerbehindertenausweis.