Gibt es eine Autismus-Epidemie?

  Autismus Mythen

Die Definition einer Epidemie ist „ein stark gehäuftes, örtlich und zeitlich begrenztes Auftreten einer Erkrankung, vor allem einer Infektionskrankheit“. Da Autismus keine Krankheit, sondern eine angeborene Neurodiversität ist, muss die Behauptung, dass es eine Autismus-Epidemie gibt, grundsätzlich in Frage gestellt werden (siehe auch Ist Autismus eine Krankheit?).

Diese Hypothese machte in einschlägigen Verschwörungstheorie-, Alternativheilversprechens- und Esoterik-Medien die Runde. Zum Beispiel verbreitete das marktschreierische Blog netzfrauen die Meldung, dass es einen Zusammenhang zwischen Glyphosat und dem Anstieg der Autismus-Diagnosen gebe. So griffen sie die Behauptung auf, dass bis 2025 angeblich die Hälfte aller Kinder „an Autismus leiden“ werden.

Kurz: Diese Hypothese entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die der Behauptung zugrunde liegenden Studien entpuppten sich als fehlerhaft und unvollständig. So waren die observierten Gruppen viel zu klein, um aussagekräftig zu sein.

„Kein Nachweis für autistische Störungen in Folge von Pestizidexposition im Mutterleib“

Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung widerspricht den Studienergebnissen und stellte in einer Stellungnahme fest: „Die Schlussfolgerung der Studie, dass Kinder von Müttern, die in der Nähe zu Flächen mit landwirtschaftlicher Pestizidanwendung wohnen, ein erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen hätten, ist aus Sicht des BfR nicht hinreichend belegt (…) Die Schlussfolgerung der Studie ist schwer nachvollziehbar.“

Ein weiterer Fehler, den die Verfechter der Hypthese begehen, ist das irrtümliche Herstellen von Korrelationen, sprich: Zusammenhänge finden, die keine sind. In diesem Fall: Der Anstieg von Autismus-Diagnosen und Die Verwendung von Glyphosat. Korrelationen und Kausalität zu verwechseln ist ein verbreiteter Fehler und führt immer wieder zu falschen Tatsachenbehauptungen – gerade im alternativmedizinischen Bereich.

In der Wissenschaft ist lange bekannt: Korrelation ≠ Kausalität. Und so ist auch der hergestellte Zusammenhang zwischen Pestiziden und Autismus schlichtweg falsch. Zur Illustration: Einen Zusammenhang könnte man auch zwischen dem Anstieg von Autismus-Diagnosen und der Verbreitung von Bio-Lebensmitteln finden – was der anderen Hypothese gänzlich widersprechen würde.

Tatsächlich kann man zwischen sehr vielen Umständen Korrelationen entdecken (bei denen natürlich keine Kausalität herrscht). Die Website Spurious Correlations demonstriert das und findet zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen den staatlichen Ausgaben für die Raumfahrt und Suiziden durch Erhängen.

Warum gibt es mehr Autismus-Diagnosen?

Trotzdem ist die Frage berechtigt, weshalb es mehr und häufiger Autismus-Diagnosen gibt als früher. Die Antwort ist relativ einfach – und logisch:

  • Wir wissen heutzutage mehr über Autismus als noch vor einigen Jahrzehnten
  • Die Diagnostik hat sich verbessert
  • Die Diagnostik hat sich darüber hinaus verändert: So wurden zum Beispiel Diagnosekriterien erweitert.
  • Autismus wird dadurch häufiger und früher richtig erkannt
  • Autismus wurde früher bei Frauen fast nie diagnostiziert – auch hier gibt es Fortschritte. Tony Attwood schrieb bereits 2000: „Ein weiterer Faktor, der einen Anstieg an Überweisungen erklären könnte, ist unser wachsendes Verständnis des Profils der Fähigkeiten bei Mädchen und Frauen mit Asperger Syndrom. (…) Mädchen mögen begabter sein als Jungen, soziale Fertigkeiten durch Beobachtung und Nachahmung zu lernen, und sie sind vermutlich weniger auffällig im Klassenraum… sie neigen weniger dazu zu stören und Ärger zu verursachen.“
  • Alles in allem beschreibt Steve Silberman das Mehr an Diagnosen als Ergebnis eines „perfect storm of autism awareness“, oder anders: Das öffentliche Bewusstsein für Autismus ist massiv gestiegen.

In Summe lässt sich also feststellen, dass wir es nicht mit einer „Autismus Epidemie“ zu tun haben. Im Gegenteil: Der Anstieg von Autismus-Diagnosen ist eine positive Nachricht, bedeutet sie nämlich nur, dass mehr Kinder und Erwachsene die Unterstützung erhalten, die sie für ein selbstbestimmtes Leben benötigen (siehe auch Ist Autismus heilbar?).

Werden bis 2025 die Hälfte aller Kinder autistisch sein?

Nein. Die Autorin dieser Hypothese begeht den Fehler, aus den von ihr beobachteten Trends eine dauerhafte Entwicklung abzuleiten. Würde man dieser Logik folgen, müssten irgendwann 100 Prozent aller Menschen Autist*innen sein. Das wäre zwar eine perfekte Welt für Autist*innen (das war Ironie; ja, wir Autist*innen können Ironie), hat aber keine wissenschaftliche Grundlage. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich der Anteil der Autist*innen an der Bevölkerung (derzeit etwa 1 Prozent) dauerhaft verändern wird.

Auch, wenn die Ursachen von Autismus nicht abschließend erforscht sind, können wir festhalten: Nein, weder gibt es einen Zusammenhang zwischen Autismus und Pestiziden, noch gibt es eine Autismus Epidemie (siehe auch Was ist die Ursache von Autismus?).